Barbara Krohn
Keine Leichen im Keller
Jugendbuch
978-3-934983-60-1
370 Seiten, Paperback
20,00
Leseprobe:
Amelie Schmid
Das Bild, das mich malte
Sie war wahnsinnig schlecht gelaunt. Sie hatte einen Fleck auf dem Hemd, ihr Haar war durcheinander und der Himmel bewölkt. Ihr Mann war heute wortkarg, ihr Job monoton wie immer, und ihr Chef hatte seinen besonders sexistischen Tag. Außerdem hatten sie und ihr Stiefsohn sich gestritten. Man sollte meinen, an das Alltägliche würde sie sich irgendwann gewöhnen, aber gehasst zu werden, würde sie wohl nie als normal empfinden. Sie war in ihrem Leben immer nur geliebt worden - die beliebteste Schülerin, die hübscheste Studentin und die Sekretärin des Monats war sie gewesen. Die Welt war für sie voll Sonnenschein, voll offener Türen und glänzender Verheißungen. Daran lag es auch, dass sie diesen einen Punkt nicht akzeptieren konnte - den Hass und die Imperfektion dieses Jungen, für dessen Leben sie doch eine Verbesserung hätte sein sollen. Sie wollte ihn doch nur gerade rücken, wollte ihn in den Rahmen der Sauberkeit, Schönheit und Ordnung stecken, der sich in ihrer Kleidung, Frisur und Maniküre widerspiegelte. Das Ergebnis waren Unordnung, Chaos, Zerstörung und Trotz. Und das letzte, was sie wollte, war, vor ihm Schwäche zu zeigen.
Deswegen war sie auch diejenige, die nach unten in den Keller ging. Sie wollte nicht, aber sie hatte keine Wahl: denn noch weniger wollte sie die Verwöhnte sein, die sich die Finger nicht dreckig machen konnte. Also öffnete sie die alte Metalltür mit dem viel zu kalten Griff und steckte den laut klimpernden Schlüssel zurück in ihre Jackentasche, holte tief Luft und stellte sich der Dunkelheit. Sie musste einen Schritt ins Ungewisse machen, in den Geruch nach Alter und Geheimnisvollem. Ihre langen Fingernägel kratzten etwas Putz von der Wand und sie verkniff sich ein Fluchen, aber schließlich fand sie den Lichtschalter, drückte drauf und war so verwirrt von der plötzlichen Helligkeit, dass sie viel zu lange nichts sah.